Der Weg zur Wahrheit

Rafael Arutjunjan’s Weg in der Kunst ist ein Weg zur Wahrheit gewesen. Er bewegte sich in gleichem Takt mit seiner, nicht gerade einfachen Zeit, reagierte feinfühlig und präzise auf Ereignisse und schätzte sie adäquat ein. Die wichtigste Eigenart seiner Persönlichkeit besteht aber darin, dass er in seinem ganzen Schaffen nie von Kategorien wie „erlaubt“, „modisch“ oder  „nützlich“ ausgegangen ist, sondern von seiner eigenen humanistischen und harmonischen Welterkenntnis, die Gewalt und Lüge ausschließt. Davon zeugen beide seiner Wege – sowohl der Lebensweg als auch der schöpferische Weg.

Grigor Melik-Schachnazarjan, der Urgroßvater von Rafael Arutjunjan in mütterlichen Linie lebte im Nagornyi Karabach. Als vernünftiger und ruhiger Mann erreichte er alles dank eigener  Vernunft und Arbeit. Er hatte ein geräumiges Haus mit fünfzehn Zimmern, einen großen Keller voll von langjährigen Weinen, einen Obstgarten mit Tausenden von Bäumen …  In diesen Zeiten wurden Menschen, die ihr Vermögen auf ehrliche Weise erworben hatten und auch etwas für ihr Land geleistet hatten, geadelt. So bekam Grigor Schachnazarjan vom Zaren das fürstliche Präfix „Melik“ verliehen. Lustig, entgegenkommend, gastfreundlich, half er auch immer den Armen. In seinem Dorf und in seiner Familie war Grigor “Zar und Gott”. Das Merkwürdigste bestand aber darin, dass er nie eine Waffe getragen hatte, nicht mal den Dolch am Riemen. Bei Bergbewohnern kommt dies selten vor.

Wer weiß, vielleicht hat Rafael seine ausgeprägte Abneigung gegen Gewalt von ihm geerbt? „Es darf keine Kriege geben. Gewalt als solche ist für mich widerlich. Man muss lernen zu verzeihen, sonst wird es kein Ende der Kriege geben“, sagt er viel später in einem seiner Interviews.

Warsenik, die jüngste Tochter von Grigor, war eine ausgesprochene Schönheit. Sie heiratete Owagim Stepanjan, einen jungen Imker. Owagim wurde später Buchhalter. Die Großeltern von Rafael führten ein friedliches und glückliches Leben, bis zum Jahr 1937, als Owagim “als Feind des Volkes” nach Sibirien deportiert wurde. Dort starb er auch.  Warsenik und Owagim hatten vier wunderbare Kinder großgezogen. Gohar, die jüngste von den Kindern, wurde Rafaels Mutter.

Galust Arutjunjan, der Urgroßvater von Rafael Arutjunjan in väterlicher Linie, stammte aus Zangesur, einem Gebiet Armeniens. Als die Zeit so weit war, erlernte der einfache Bauernjunge den Beruf eines Schusters (Schuhreparatur) und begab sich auf der Suche nach mehr  Geld und einem besseren Leben nach Baku. Da er aber faul war und gern schlief, ist er auch nie wohlhabend geworden. Galust Arutjunjan fiel auf durch seinen kriegerischen Charakter, denn er fürchtete sich vor nichts. 1915, als der armenisch-türkische Konflikt ausbrach und es in der Luft nach Blut roch, sammelten viele ihre Habseligkeiten zusammen und fuhren nach Nordkaukasien. Auch die Familie von Galust machte sich auf den Weg. Er selbst jedoch lehnte das Verlassen der Heimat kurzerhand ab und blieb allein im Dorf zurück. Bald kamen Aserbaidschaner und fingen an, an die Tür zu trommeln. Galust kam aus dem Haus heraus und fragte streng, was die Fremden denn wollen. Es stellte sich heraus, dass man scharf auf die Wertsachen war. „Macht euch davon!“, sagte Galust ohne jegliche Angst. Darauf wurde er von jemandem  mit Messer in den Bauch gestochen, er verblutete und starb an der Schwelle seines eigenen Hauses.

Es ist durchaus möglich, dass Galust Arutjunjan seine Furchtlosigkeit zwei Generationen später an Rafael Arutjunjan weitergegeben hat. „Ich habe mein Leben als starker Mensch gelebt, und Angst habe ich nur vor einer Sache gehabt, vor dem Tod der Nahestehenden“, hat er später in einem Gespräch bekannt.

Kristof, einer der Söhne von Galust wurde Rafaels Großvater. Er heiratete ein junges Mädchen, das auch Warsenik hieß und aus Schuschi stammte. Kristof war Analphabet, ein wenig knauserig und arbeitsbegierig. Indem er als Laufbursche in einem kleinen Laden anfing, sparte er gleich sein Geld, eröffnete danach zunächst einen kleineren Laden, und gründete später eine Firma unter dem Namen „A la Koket“, die mit Frauenwäsche ausländischer Herkunft handelte. Es war die Oktoberrevolution, die ihm alles verdarb und es unmöglich machte, ein Kaufmann erster Gilde zu werden. Charakteristisch für Kristof war seine absolute Nichttoleranz gegenüber Lügen. Er geriet buchstäblich außer sich, wenn er den Eindruck bekam, dass jemand ihn betrügen wollte. Einmal schrie er seinem Sohn, dem Vater von Rafael ins Gesicht: “Kein einziges Wort kannst du sagen, ohne dabei zu lügen!“.

War es der Großvater, von dem Rafael seine pathologische Ehrlichkeit geerbt hat? „Sowohl in der Familie als auch im Leben bin ich immer von ausschließlicher Ehrlichkeit ausgegangen. Denn Ehrlichkeit, dass ist die erste Existenzgrundlage des Menschen, sein ganzes Wesen“,  sagte er einmal.

Suren, der Sohn von Kristofer und Warsenik, verliebte sich in seine zukünftige Frau Gohar schon in der Schule. Suren, der schon von Kindheit an von einer militärischen Karriere geträumt hatte, trat in den Militärdienst ein und wurde zur Liquidierung von konterrevolutionären Banden nach Mittelasien geschickt. Ein Jahr später, während des Urlaubs, und geheim vor allen anderen, heirateten beide im Standesamt. Der Urlaub war bald vorbei und das junge Ehepaar fuhr ins Militärlager in Usbekistan. Einige Jahre später wurde Suren aus dem Dienst entlassen, und das Paar kehrte zurück nach Baku und nistete sich dort bei Surens Eltern ein. Später mieteten sie ein kleines Zimmerchen unter demselben Dach. Hier wurde zuerst Emma, und im Jahr 1937 Rafael Arutjunjan geboren.

Rafael Arutjunjan hat alle diese und noch viele andere Fakten aus der Geschichte seines uralten Geschlechts sorgfältig gesammelt und in talentierter Art im Buch “Erinnerungen eines Menschen” niedergeschrieben. In der Einführung schreibt er: “Ich setzte mich an den Schreibtisch, und machte mich an die für mich nicht gerade gewöhnliche Arbeit mit nur einem Ziel – über Menschen zu erzählen, über die kein anderer erzählen wird, weil von den Leuten, die sie gekannt haben, niemand außer mir noch lebt.“

Gott hat Rafael Arutjunjan mit vielen Talenten beschert. Im Schaffen hat sich seine Begabung in fünf Bereichen gezeigt: Skulptur, Graphik, Gemälde, Prosa und Poesie. Im Leben hat er aber noch viele andere Talente. Und wer weiß, wer Rafael geworden wäre – ob Schauspieler, Musiker oder Graphiker, wenn seine aus Kreide geschnittenen Figürchen dem Leiter des Skulpturzirkels  beim Palast der Pioniere in Baku nicht ins Auge gefallen wären. Er kam zum Unterricht und erkrankte schon in ersten Stunden an der Krankheit mit Namen „Skulptur“. Die nächsten 45 Jahre widmete er der Skulptur.

1958 wird Rafael Arutjunjan Student am Staatlichen Kunstinstitut der Estnischen SSR. Der aufmerksame und wissbegierige Rafael saugt die Kenntnisse in sich ein, wie ein Schwamm. Er unterscheidet sich kaum von den anderen Studenten, es sei denn durch seine Klugheit und die Originalität in der Komposition. Die Kombination von diesen zwei Eigenschaften ergibt ein unerwartetes und überraschendes Ergebnis: für seine Diplomarbeit wählt Rafael Arutjunjan nicht das von der Zeit schon erprobte, ihm naheliegende und ideologisch ungefährliche Thema des armenischen Genozids, sondern das Thema des bis dahin eigentlich kaum betrachteten und für die Machthaber sehr heiklen Holocausts, weil er es eben für aktueller und wichtiger hält.

Nach der glänzender Verteidigung seiner Diplomarbeit kehrt Rafael Arutjunjan, wie es laut den  damaligen Vorschriften üblich war, zurück nach Baku, um dort das vorgesehene Jahr abzuarbeiten. Er arbeitet als Leiter eines Skulpturzirkels und unterrichtet nebenberuflich zweimal wöchentlich Zeichnen an einer Schule. Er lernt Irina, seine zukünftige Frau, kennen. Am dritten Tag der Bekanntschaft macht er ihr den Heiratsantrag und zwei Monate später heiraten sie. Nach dem Ende des obligatorischen Jahres fährt Rafael mit seiner Frau nach Tallinn, und enthält am festgelegten Tag, unter stürmischem Beifall der Studenten und den begeisterten Blicken seiner Frau das begehrte Diplom. In Baku will er aber nicht länger arbeiten – in dieser Atmosphäre des Nationalismus hält er es als Bildhauer nicht aus.

Die Idee vom Umzug nach Tallinn wurde von niemandem außer seiner heißgeliebten Mutter  gutgeheißen. Wie immer, verstand sie ihren Sohn und sagte: “In Tallinn kannst du eine Zukunft haben. Die Luft in dieser Stadt übt einen positiven Einfluss auf dein Schaffen aus, und ich weiß, dass der Sinn deines ganzen Lebens gerade darin, nämlich im Schaffen, liegt. Hier hast du keine Zukunft weder jetzt und auch später wohl kaum. Ich habe mein Leben schon hinter mir, und weiß, wovon ich rede.” Es begannen ermüdende Verhandlungen und Streite mit der Frau, die Beziehungen zu ihren Eltern wurden gar abgebrochen.  Leere Tage zogen sich drückend und schwermütig dahin. Nach einem Jahr solchen Lebens hielt Rafael es nicht mehr aus: eines Tages  kündigte er seine Arbeit, nahm seine Sachen, ging weg und flog nach Tallinn, in die Zukunft, in die Unbestimmtheit.

Das Schicksal liebt starke und ungehorsame Menschen, und daher hilft es ihnen auch. Alle lebenswichtige Fragen lösten sich recht schnell: mit der Anmeldung in Tallinn half Olav Männi, mit der Werkstatt half Boris Moisejewitsch Bernstein, und mit Arbeit Matti Varik. In einigen Monaten kam auch die liebende Ehefrau in Tallinn an. Die Zeit war so weit, dass das Familienleben und die schöpferischen Angelegenheiten geregelt werden mussten.

Rafael Arutjunjan wählt sich diejenige Arbeit aus, die seinem Beruf am nächsten steht und fängt an, in einer Werkhalle als Steinhauer zu arbeiten, oder einfacher gesagt, er wird Graveur: er macht  Gravierungen auf Granit- und Marmorgrabsteine. Diese Arbeit, die sowohl moralisch als auch physisch sehr schwer ist, wird seine Familie fast siebzehn Jahre lang, bis 1983, ernähren, und sie gibt ihm die Möglichkeit, schöpferisch so tätig zu sein, wie er es selbst will, d.h. sie gibt ihm die Freiheit. Jeder von uns bezahlt einen Preis für die Freiheit. Bei Arutjunjan kam es auf den Preis nicht an.

Das Leben von Rafael Arutjunjan fand seinen Rhythmus und floss im gleichmäßigen Tempo. Fünf Tage in der Woche war er Steinhauer, an den Wochenenden und Abenden ein produktiv und frei schaffender Bildhauer und liebender Ehemann. 1968 wird der Sohn geboren, der seine Welt in hellen und frohen Farben erscheinen lässt.

Es näherte sich das Jahr 1970, das hundertste Jubiläum vom V. I. Lenin. Die amtliche Macht beschloss, das Denkmal des Führers vom Weltproletariats vor dem Gebäude des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Estlands zu erneuern und es wurde dafür ein Wettbewerb ausgerufen.  Rafael Arutjunjan machte sich gleich enthusiastisch an die Arbeit. Laut Aussage eines Jurymitgliedes „stand keines der vorgeschlagenen Denkmäler der Gestalt Lenins so nahe wie das von Arutjunjan“. Nach der Auswertung der Ergebnisse war er aber gezwungen, sich nur mit der Anerkennungsprämie zufrieden zu geben und das während der Teilnahme am Wettbewerb Durchlebte und Gesehene bedrückte ihn sehr. Gerade dann gab Rafael Arutjunjan sich das Wort, unter keinen Umständen wieder an vorgegebenen Gestalten zu arbeiten. Er hat auch Wort gehalten.

In den 70-er Jahren arbeitet der Künstler viel und angestrengt, nimmt an allen städtischen und republikanischen Ausstellungen teil, und bei Gelegenheit auch an Ausstellungen anderswo in der Sowjetunion. Diese Zeit wird vom intensiven schöpferischen Wachstum in allen Richtungen gekennzeichnet. Der Meister erprobt sich in unterschiedlichen Materialien, unterschiedlichen Genres, unterschiedlichen Themen, sucht nach neuen Ausdrucksmitteln. Aluminium, Kupfer, Bronze, Gips, Holz und Granit ziehen ihn mit ihren unerforschten Möglichkeiten unüberwindlich an und fügen sich ihm.

1971 kam Rafael Arutjunjan zur Schlussfolgerung, dass er sich als Bildhauer schon vollkommen  behauptet hatte, und veranstaltete seine erste Personalausstellung. Ungeachtet dessen, dass die Skulpturen in keinem sehr angesehenen Saal ausgestellt waren, war die Ausstellung unter Kollegen und Kunstkennern erfolgreich. Die zweite Personanalausstellung fand sechs Jahre später, 1977, statt. Eines der Ergebnisse der Ausstellung war sein Beitritt zum Künstlerverband.

Der Interessenmittelpunkt von Rafael Arutjunjan konzentrierte sich immer auf die Sphäre des inneren und persönlichen Lebens. Gesellschaftliche Erscheinungen interessierten ihn nur in dem Maße, in dem sie den einzelnen Menschen betrafen. Indem er ein gleichmäßiges und relativ geschlossenes Leben (Werkhalle – Werkstatt – Zuhause) führte, fand er alle für seine Arbeit und für sein Glück notwendigen Stimuli in diesem Raum. Stellte die Werkhalle für ihn die unabdingbare Notwendigkeit und die Werkstatt das schöpferische Bedürfnis dar, so war das Zuhause für ihn das sichere Hinterland. Das Schicksal machte Rafael Arutjunjan ein seltenes Geschenk in der Form eines glücklichen Familienlebens. Es beschenkte ihn nicht nur mit einer treuen, liebenden und feinfühliger Lebensgefährtin, sondern auch mit der Fähigkeit, diese Werte zu schätzen. Die Gestalt seiner Frau ist das Leitmotiv in seiner Skulptur, Graphik und Malerei, in seiner eigenen „Iraiada“. Der Ehefrau ist auch das Buch „100 Gedichte“ gewidmet.

Die 80-er Jahre brachten neue Erschütterungen mit sich. In siebzehn Jahren des Zweikampfes vom Künstler mit dem Granit erwies sich der Letztgenannte als stärker. Sein Herz wurde krank. Das Leben brauchte Änderungen. 1983 verabschiedet sich Rafael Arutjunjan von der Steinhauerwerkhalle und fängt an, im Betrieb “Punane RET” zu arbeiten

Mit demselben Datum, 1983, wird eine der expressivsten Arbeiten des Bildhauers „Danko“ datiert. Kann es sich hier um ein Zusammentreffen der Zufälle handeln? In wie weit haben wir es bei dieser thematischen Skulptur mit einem autobiographischen Werk zu tun? Wessen Herz ist von Nadeln und Strahlen durchbohrt? Wie könnte man feststellen, welchen Schmerz es genau  empfindet – stammt er von der schweren Arbeit des Steinhauens oder von der, alle Kräfte übersteigenden Sorgenlast der Welt? Die Antworten auf diese Fragen weiß nur der Autor selbst.

Das gewohnte, schläfrige, stillstehende Leben dieser Zeit näherte sich seinem Ende. Der Tod von Breschnew 1982 steckte die Zündschnüre der Zertrümmerung an, und das große und mächtige Land kam durch das Bockspringen hochbetagter Generalsekretäre, die Perestroikapolitik und die Parade der Souveränitäten ins Rollen, in Richtung seines Endes. Die Gesellschaft fieberte wegen des sich fortsetzenden Krieges in Afghanistan, des totalen Warenmangels, der Fernsehübertragungen der Kongresse der Volksabgeordneten, der Aussagen von Sacharow, des Flusses entlarvender und beschuldigender Informationen … Jeder einzelne Sowjetmensch musste durch alle Schwierigkeiten dieser Epoche gehen: Kollaps der Ideologie, Wechsel der gesellschaftswirtschaftlichen  Formation und Neueinschätzung der Werte.

Die Arbeiten dieser Zeit überraschen mit ihrer Vielflächigkeit, Vielseitigkeit und Vieldeutigkeit. Man hat den Eindruck, als ob alle möglichen Materialien dem Bildhauer ihre Geheimnisse eröffnet hätten; alle Genres unterliegen ihm und seine künstlerische Sprache kennt keine Grenzen. Es ist nicht völlig klar, in welche Richtung er sich weiter bewegen wird. Seine berühmte Phrase „ich habe den Eindruck, dass ich in der Skulptur alles von mir gegeben habe, was ich habe geben können“ sprach er aber erst 1997 aus und nun steht er schon fast zehn Jahre lang auf dem Gipfel des Ruhmes. Rafael Arutjunjan feiert seinen 50. Geburtstag mit der dritten Personalausstellung im  Foyer der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften.

Die vierte Personalausstellung wird dem 60. Geburtstag des Künstlers gewidmet und findet 1997 im Kulturzentrum Sakala, in den für Präsidentenempfänge bestimmten Räumlichkeiten statt. Ausgestellt waren über 100 Arbeiten.  Schon beim ersten Blick fällt das Zurückweichen des Bildhauers von den ihm sonst so eigenen Betonungen auf, der relative Interessenverlust an naturellen Materialien und eine Vertiefung in den Konzeptualismus. Anstelle von ganzen, materiellen, konkreten Gestalten treten Symbole, Zeichen und Bedingtheit auf. Die Rahmen der klassischen Skulptur werden für den Meister zu eng, und mit der Kraft seines Talents versucht er, sie auszuweiten und sich von der spürbaren Abhängigkeit traditioneller künstlerischer Mittel zu befreien. Nach der Wahrheit sucht er nicht mehr im Material selbst, sondern in seiner Kombinierfähigkeit und deren Umwelt. Rafael Arutjunjan denkt immer noch in den Kategorien der Skulptur, ändert aber ihren Vektor.

„Drachen. Ausgeburt des Systems“ (1990), „Schuttabladeplatz“ (1992), „Fernsehbrücke“ (1992), „Umkippen ins Grab“ (1992) – es sind nicht die Skulpturen, sondern eher aus mehreren Komponenten bestehende Konstruktionen, worin der Autor nicht nach Ausdrücken, sondern nach der Erfassung der Wirklichkeit sucht. Diese Konstruktionen sind dazu berufen, den verwirrten Zustand der Seele und die intensive Suche nach neuen künstlerischen Mitteln wiederzugeben. Die Mehrheit des riesengroßen Landes, das plötzlich aufgehört hatte, zu existieren, hat damals eine solche Periode der Unstimmigkeit und Unschlüssigkeit durchgemacht. Der schmerzhafte Zerfall des mächtigen Imperiums, tragische Konflikte zwischen dessen einst so einigen Bestandteilen und bloßstellende Publikationen in den Massenmedien brachten alle gewohnten Orientierungspunkte zum Umstürzen und die Begriffe des Guten und Bösen durcheinander. Der arutjunjansche „Drachen“ lebte und atmete, bildlich ausgedrückt, in jedem von uns, und jeder von uns fühlte sich wie auf dem „Schuttabladeplatz“ der Geschichte. „Die Zeit zu besiegen, das bedeutet diese Zeit auszudrücken und damit den Tod zu besiegen“, hat Rafael Arutjunjan einmal gesagt. Wenn es wirklich so ist, wird er nicht sterben.

1997, gleich nach der vierten Personalausstellung, verzichtet Rafael Arutjunjan auf die Skulptur als solche und fängt an, im neuen Genre zu arbeiten, welches noch von keinem bezeichnet werden konnte. Zurückgezogene, mit Arbeit, Inspiration und Schaffen gefüllte Jahre brachten ihn näher zur Wahrheit. Dreißig Jahre hatte er die Zeit ausgedrückt, jetzt war er dran, der Zeit einen Sinn zu geben. Weder Skulptur und Graphik noch Malerei hatten es geschafft. Er brauchte etwas anderes. Die neue Aufforderung brauchte auch ein neues Instrumentarium – eine vernünftige Einheit zwischen dem Umfang und der Farbe.

Der Inhalt der Suche von Rafael Arutjunjan wird von ihm selbst wie folgt erklärt: „Die Form selbst hat für mich nie das Wesen bedeutet, ich habe sie nur als ein Instrument, eine Art Hilfsmittel betrachtet, das mir helfen soll, mein Verständnis der Idee im gegebenen Lebensmoment den Menschen anderen nahe zu bringen“. Die Form, die es schaffte, die Gedanken des 60-jährigen Künstlers über das Leben an den Menschen zu bringen, wurde gefunden: eine Form an der Grenze der Tafelmalerei, der Skulptur und des Pop-Art. Sie vereinigte in sich Farbenpracht, Gegenständlichkeit und Kapazität und gab so unbegrenzte Möglichkeiten im Sinne der Weite der Verallgemeinerung und der allegorischen Äußerung.

Die absolute Mehrheit der Gemälde von Rafael Arutjunjan setzt das Vorhandensein eines breiten beschreibenden Kontextes voraus, der sowohl durch die ungewöhnliche Form als auch  den besonderen Aufbau des Denkens des Künstlers bedingt ist. Das sind Bilder-Labyrinthe, die von der wunderlicher Phantasie des Autors-Fremdenführers geschaffen worden sind. Es muss in diesem Zusammenhang gesagt werden, dass die strengen Rahmen der bildenden Kunst für ihn schon längst zu eng geworden waren. Mit dem Talent sowohl des poetischen als auch des  prosaischen Wortes beschenkt, fing er schon Anfang der 90-er an, Gedichte zu schreiben, die den Sinn so mancher seiner Skulpturen erklären und eröffnen. Diese vielseitige und parallele Erfassung des Themas erlaubt es in Wirklichkeit vom synthetischen Charakter des Schaffens von Rafael Arutjunjan zu sprechen.

2003, nach fünf Jahren des Schweigens, fand im demselben Kulturzentrum in der Sakala Straße die fünfte Personalausstellung von Rafael Arutjunjan statt. Es wurden 230 Gemälde und graphische Arbeiten ausgestellt, das Ergebnis von fünfjähriger Arbeit. „Mit großer Angst in meinem Herzen habe ich auf die Reaktion des Publikums gewartet, und ich fand in mir nicht mal den Mut, im Moment der Eröffnung der Ausstellung, im Saal anwesend zu sein“, sagt Rafael Arutjunjan später. Wir sind mit ihm nicht einverstanden. Die Erregung, die für solche wichtigen Ereignisse eigen ist, hat nichts mit Mut zu tun. Unter Mut versteht man die seelische Standhaftigkeit und Kühnheit, d. h. die Fähigkeit des Menschen, eigene Wege zu gehen und die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Das bleibt aber keinesfalls ungeschätzt. Die fünfte Personalausstellung war seine erfolgreichste. Jeden Tag nach der Öffnung der Türen kam Rafael Arutjunjan in den Saal, setzte sich an den Flügel und fing an, eine Melodie zu spielen. Und Besucher kamen und kamen, um sich seine Kunst anzusehen.

Am 26. Januar 2003 stürzte das glückliche Leben von Rafael Arutjunjan zusammen, denn an diesem Tag starb seine Frau Irina. Es verblieb ihm nur ein Leben, gefüllt von Sorge, Schmerz und Einsamkeit. Meißel, Pinsel und Bleistift finden bis heute noch keine Anwendung. Keiner weiß, was ihn  in der Zukunft erwartet. Dazu, was es in der Vergangenheit gegeben hat, äußert sich am besten Rafael Arutjunjan selbst: „Wenn ich auf den durchgemachten Weg zurückblicke, komme ich zur Schlussfolgerung, dass ich im Großen und Ganzen zufrieden bin. Ich bin nicht damit zufrieden, welche Skulpturen ich geschaffen habe, d.h. ob genügend Talent in ihnen steckt, und auch nicht mit der Anzahl der Arbeiten – es hätten viel mehr sein können, wenn ich freischaffender Künstler gewesen wäre, sondern ich bin damit zufrieden, dass ich von dem schon am Anfang von mir festgelegten Weg in der Kunst, dem Weg zur Wahrheit, der Selbstaufopferung und Uneigennützigkeit verlangt, nicht abgebogen bin, und dass ich trotz aller Erniedrigungen, die mir von meinen Berufskollegen zuteil geworden sind, doch ich selbst geblieben bin“.

Emma Darvis